Zur allgemeinen Aufmunterung berichte ich heute von meinem ach-so-braven Besuch eines sonntäglichen Gottesdienstes. Ich war in der Frankfurter Innenstadt, um mir etwas die Beine zu vertreten, als plötzlich ein geradezu ohrenbetäubendes Glockengeläut erschall. „Das ist ein Zeichen!“, dachte ich mir und schlüpfte in das Halbdunkel einer offenstehenden Eisentür.
Zu meiner Überraschung war die Kirche ziemlich voll; ich schätze mal 40%, also „locker gefüllte“ Bänke. Es waren überwiegend Frauen. Fast alle Besucher hatten das Rentenalter erreicht. Es muss wohl eine evangelische Kirche gewesen sein, da eine Frau einen Vers vorlesen durfte, außerdem bot man einen Vorsänger in kurzen Hosen und Adiletten, die meines Dafürhaltens nicht der katholischen Kleiderordnung entsprechen. Die Predigt war jedoch nach meiner Meinung inhaltlich katholisch.
Die Predigt bestand aus einer Betrachtung dreier Gleichnisse, die das Himmelreich mit einem vergrabenen Schatz und einer gefundenen Perle vergleichen, sowie mit den Fischen in einem Fischernetz, bei dem die „falschen“ Fische wieder zurück ins Meer geworfen werden.
Zu diesen Versen gehören auch die berühmten Jesus-Worte von „Heulen und Zähneklappern“. Und da ich mir überlegte, ob ich nach der Predigt den Pfarrer ansprechen sollte, dachte ich mir bei diesen Worten: „Wow, da hast Du das ganz große Los gezogen!“ Sowas kann man sich als Atheist eigentlich nicht entgehen lassen, also durchlitt ich tapfer den Rest der sehr langen und sehr langweiligen Zeremonie. Ich stand übrigens auf der Empore, direkt vor der Orgel, und hatte so einen guten Überblick. Leichtes Ohrensausen nahm ich dafür in kauf.
Zu meiner Verblüffung nahm die Predigt eine unverhoffte Wendung, als der Pfarrer offenbarte, dass er dieses Gleichnis nicht verstand.
[Jesus sprach:] Das Himmelreich gleicht einem Schatz, verborgen im Acker, den ein Mensch fand und verbarg; und in seiner Freude geht er hin und verkauft alles, was er hat, und kauft den Acker. — Wiederum gleicht das Himmelreich einem Kaufmann, der gute Perlen suchte, und da er eine kostbare Perle fand, ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte sie.
Der Pfarrer war der Meinung, es würde etwas fehlen, und die Gleichnisse würden abrupt enden, ohne dass es eine Pointe oder Erklärung gäbe. Wie konnte das sein? Die Gemeinde harrte gebannt der Auflösung dieses Mysteriums entgegen.
Dann platzte die Bombe. Der Pfarrer tat kund, dass eben diese Unvollständigkeit ein Zeichen dafür sei, dass
das Jenseits eben nicht vollständig, fertig und perfekt sei. Sondern das Jenseits sei unvollständig. Es begegne uns nicht als wohlige Hängematte, und Gott hätte nicht bereits alles eingerichtet, sondern Gott wäre auf unsere Mitarbeit angewiesen, darauf, dass wir es vollständig machen.
Warum ist das bemerkenswert? Das ist bemerkenswert, weil hier eine konkrete Aussage über ein angebliches Jenseits getroffen wird — ohne Begründung. Der Pfarrer weiß über das Jenseits ungefähr so viel wie die Orgel, die ihn gelegentlich (und dankenswerterweise) unterbrach. Man hätte gerne gewusst, mit welcher atemberaubenden Methode er dieses konkrete Wissen zutage gefördert hatte. Aber ebenso wie die Gleichnisse endete sein Vortrag just an dieser Stelle. Allerdings war auch seitens der Zuhörer kein Verlangen nach einer Begründung sichtbar.
Insgesamt dauerte dieses Fest der gegenseitigen Ignoranz eine knappe Stunde.
Als ich die Kirche verließ, schien draußen die Sonne, und ich fand mich zurück im modernen, weltoffenen Frankfurt.
Was für ein Glück.